Über den Humor und die Geisteshaltung in den Märchen der Gebrüder Grimm
von Tanja Krienen
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Es war einmal das 200. Jahr der Erscheinung der ersten Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ und nun, da es endete, bleibt festzustellen, wie wenige neue Annäherungen an das Werk in den Presserzeugnissen rückblickend zu lesen waren. Sicher, die Werkbeschreibung der bekanntesten Beiden der neunköpfigen Geschwisterschar (drei starben als Kleinkinder) als Mitbegründer der modernen Germanistik stimmte, soweit sie sich an die reinen Fakten hielt. Auch spulte man die gängigen Klischees zu ihren Lebensdaten ab, ohne aber z.B. zu fragen, oder optimal sogar die Antwort zu liefern, wieso Jacob Grimm frauen- und kinderlos blieb, weshalb Bruder Wilhelm ein ganz anders Temperament entwickelte oder warum die beinahe symbiotische Verbindung beider in dieser Form überhaupt zustande kam.
Wenngleich einige Merkmale der Märchenerzählungen mit Kritik leicht berührt wurden, überwog doch eine naive Sicht auf eine Welt, in der Verzauberungen, morphologische Veränderungen und Logiksprünge als Wesensmerkmale obligat erscheinen. Auf ihnen beruhen bekanntermaßen bis heute die Horrorgeschichten jeglicher Art. Nicht selten kann eine Katharsis auch der schlimmsten Vorgänge und psychologischer Erschütterungen durch sie erreicht werden. Die romantische und phantastische Welt – so konservativ sie auch dargestellt wird und so sehr sie auch in der Tat bewahrenswerte Elemente beinhaltet – bildet jedoch gleichzeitig den Boden für eine Etablierung des Grauens und pflanzt durch lapidare Schilderungen einen den Schilderungen scheinbar zwangsläufig innewohnenden Verlauf zu. Es erinnert an die von Adorno abgegebene Bewertung über Disney-Figuren, demnach die einfachen und im realen Leben geprügelten Menschen, durch die im Trickfilm erlittene Pein der Figuren, Gewöhnung an das Grauen des alltäglichen Lebens erfahren. Vielleicht nicht zufällig besteht das Disney-Logo aus einem Märchenschloss.
Märchenhandlungen spielen auf einer extrem gesellschaftlich rückständigen und gleichzeitig verniedlichenden Ebene, auf der selbst Tiere plappern, wie der jeweilige König der selbstverständlich schönsten Königstochter. Bisweilen erleben wir geradezu sozialen Kitsch, auch tendenziellen Antisemitismus wie in „Der gute Handel“ und „Der Jude im Dorn“, letzterer der, obwohl unschuldig, aufgehängt wird, als sei diese Ungerechtigkeit eine, die en passant geschehen kann. Auch wird eine unvorstellbare Härte in einer hierarchisch gegliederten Ordnung bebildert, in der man oft nicht durch Bildung und Fleiß, sondern durch Zauberei zu Geld und Gold gelangt.
Widersprüchliche Auffassungen finden sich in der Kritik derjenigen, denen die geglätteten Märchen nicht genügend rau daherkommen. Doch nur, soweit es sich um die versteckte Sexualität in den Märchen handelt. Dieselben Kritiker bemängeln anderseits jedoch die oft anklingende, grausame und unmenschliche Gewalt der Geschichten. Ja, was denn nun, möchte man fragen? Vom heutigen Stand kann man durchaus nachvollziehen, dass die Gebrüder Grimm zwecks Kompatibilität ihrer oft durch eigene Hand frisierten Überlieferungen, die Erzählbarkeit durch Modellierung verbesserten und durch die Verkürzung der sexualisierten Passagen, besonders Kinder anzusprechen verstanden. Sofern die pädagogische Erziehungswirkungen durch die beschriebene Gewalt erfolgte, erscheint sie wohl beabsichtigt und trägt, so der Vorwurf, latent zur Verrohung der Kinderseelen durch Einübung bei, da sich der Stoff explizit an angeblichem Kinderinteresse orientiert.
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Todernste Figuren
Doch wenden wir uns nur einem Bereich zu, von dem manche sagen, es gäbe ihn gar nicht, nämlich dem Grimmschen Humor. Dieser aber macht dem Familienname durchaus Ehre, denn er hat etwas vom Schopenhauerschen, der mit seinem Blick auf das Weltengetriebe, in brüsker Art sarkastisch und lakonisch schlüssige Zuspitzungen formulierte und auch Wilhelm Busch inspirierte. Ganz so die Grimms, die jedoch selten zum lauten Lachen, bisweilen zum verstehenden Schmunzeln und manchmal, aber bisweilen doch, zum unterdrückten Prusten reizen. Häufig jedoch erscheinen die Texte wirklich böse, derb, zynisch und inhuman. Keine ihrer Figuren agiert wirklich fröhlich, lacht, versucht witzig zu sein oder hält ironischen Abstand zum Geschehen in Form einer tieferen Entlarvung. Alle handeln beinahe vorgegeben, mechanisch, berechenbar und todernst – keine einzige Figur wurde je originär lachend dargestellt.
Nehmen wir exemplarisch eine besonders grimmige Schilderung, die sogar ein ganzes Märchen umfasst. Dieses Märchen ist wohl das kürzestes aller Grimmschen in der bekannten Sammlung und heißt „Das eigensinnige Kind“. Es umfasst lediglich vier Sätze in neun Zeilen und schildert launig und garstig zugleich, wie eben jenes eigenwillige Kind starb, weil „der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm (hatte)“. Als es aber im Grab lag, streckte es immer wieder einen Arm heraus, aber auch nachdem noch einmal frische Erde darauf geschüttet war, kam das Ärmchen immer wieder. Das Kind zeigte sich also im Tod höchst eigensinnig. Etwas, das den Brüdern als Wesensart nicht so sehr gefiel. Und so lösen sie das Problem wie folgt: „Da musste die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie es das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.“
Ganz ähnlich erging es im Märchen „Tante Trude“ einem kleinen Mädchen, welches „eigensinnig und vorwitzig“ war „und wenn ihm seine Eltern etwas sagten, so gehorchte es nicht: wie konnte so etwas gut gehen?“ Und die Moral von der Geschicht´: Als das Mädchen neugierig Frau Trude aufsuchte, die keine geringe als die ortsansässige Hexe war, folgte das schlimme Ende, wie aus einem modernen Horrorfilm mit Tricks und viel Getöse: „Da verwandelte sie das Mädchen in einem Holzblock und warf ihn ins Feuer. Und da er voller Glut war, setze sie sich daneben, wärmte sich daran und sprach >das leuchtet mir einmal hell!<“
Viele Märchen der Brüder Grimm enden mit einer dieser oft bösen, manchmal auch leichten und spaßigen Bemerkungen. Die bekannteste und harmloseste ist jene, die wir alle aus „Hänsel und Gretel“ kennen: „Mein Märchen ist aus, dort läuft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große große Pelzkappe daraus machen.“ Was ob der witzigen Thematik und nach dem partiell garstigen Erleben der vorhergegangen Erzählung in befreiendem Kinderlachen endet, kommt in anderen Schlussbemerkungen entweder moralisch oder mit der üblichen Grauen daher: „Wie er aber an die Haustür kam, sprang der Mühlstein herunter und schlug ihn tot. Der Herr Korbes muß ein recht böser Mensch gewesen sein.“ Vielleicht einer, wie er in „Meister Pfriem“ anklingt, als es über zwei Engel heißt: „Indem erblickte er zwei Engel, die einen Balken wegtrugen. Es war der Balken, den einer im Auge gehabt hatte, während er nach dem Splittere in den Augen anderer suchte.“
In der Episode „Der Riese und der Schneider“ wird es gar absurd. Als der Schneider nach dem zu erzielenden Lohn fragt, raunzt der Riese kühl: „Jährlich 365 Tage, und wenn´s ein Schaltjahr ist, noch einen obendrein.“ Und als der Schneider zuletzt durch eine Gerte in die Luft geschossen wird, kommentieren die Grimms lapidar: „Wenn er nicht wieder heruntergefallen ist, so wird er wohl noch oben in der Luft schweben.“ Da denken wir doch gleich an die ebenfalls sehr bekannte Formulierung „und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende“, die übrigens nur in „Dornröschen“ vorkommt und die Erzählung abschließt. Während das Artverwandte „und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch“ aus „Fundevogel“ stammt. „Sie umarmten und küssten sich, und ob sie glückselig waren, braucht keiner zu fragen,“ schließt ebenso frohgelaunt und optimistisch die Überlieferung „Die Nixe im Teich“ und „Die Bremer Stadtmusikanten“ endet „Und der das zuletzt erzählt hat, dem ist der Mund noch warm.“ Ein wenig onkelhaft.
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Schwarzer Humor klingt an, ehe es finster wird
Schwarzhumorig wie bei Georg Kreislers „Das Mädchen mit den drei blauen Augen“ geht es allerdings im Märchen „Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein“ zu: „Es war eine Frau, die hatte drei Töchter, davon hieß die älteste Einäuglein, weil sie nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn hatte, und die mittlere Zweiäuglein, weil sie zwei Augen hatte wie andere Menschen, und die jüngste Dreiäuglein, weil sie drei Augen hatte, und das dritte stand bei ihr gleichfalls mitten auf der Stirn.“ Modern, weil die Divergenzen zum „Spießigen“ und Herkömmlichen heute geradezu als Vorteil gelten, setzen die Grimms noch Einen drauf: „Darum aber, dass Zweiäuglein nicht anders aussah als andere Menschenkinder, konnten es die Schwestern und die Muter nicht leiden.“ Zumal Dreiäuglein eine wundersame Fähigkeit besaß, denn das dritte Äuglein konnte, während die beiden anderen schliefen, wachen. Übertroffen wird das nur vom Märchen „Das junggeglühte Männlein“, in dem eine angestrebte Verjüngungskur schief ging und darauf „…die zwei, die beide mit Kindern gingen, so entsetzten, dass sie noch in der Nacht zwei Junge gebaren, die waren nicht wie Menschen geschaffen, sondern wie Affen, liefen zum Wald hinein und von ihnen stammt das Geschlecht der Affen her.“
Doch immer wieder Gewalt und Lynchjustiz, wie in „Brüderchen und Schwesterchen“: „Die Tochter wurde in den Wald geführt, wo sie die wilden Tiere zerrissen, die Hexe aber war ins Feuer gelegt und musste jammervoll verbrennen“. Ebenso in „Die zwölf Brüder“: „Die böse Stiefmutter ward vor Gericht gestellt (immerhin, Anmerkung TK) und in ein Faß gesteckt, das mit siedenem Öl und giftigen Schlagen angefüllt war und starb eines bösen Todes.“ Aber manchmal auch so dick aufgetragen, dass man sich schon ab und ambivalent gruseln kann, wie im Märchen „Der singende Knochen“: „Der böse Bruder konnte die Tat nicht leugnen, ward in einen Sack genäht und lebendig ersäuft.“ Überführt wurde er, nachdem jemand auf einem Knochen des vom Täter ermordeten Opfers blies und der Knochen sang: „Mein Bruder hat mich erschlagen, unter der Brücke begraben.“ Die Reime machen überhaupt einen Teil des Grimmschen Charmes aus, denn sie besitzen nicht selten einen interessanten Rhythmus, gehen direkt ins Gedächtnis ein und wurden fast zu geflügelten Worten. Ein gutes Beispiel dafür aus „Aschenputtel“:
„Die Guten ins Töpfchen,
Die Schlechten ins Kröpfchen.“
So lautet das Grimmsche Gesetz Nr. 1.
Wenn man alle Grimmschen Märchen gelesen hat, mag man vor lauter Gewalt, Blut und willkürlichem Mord kaum noch schmunzeln. Welcher Boden wurde da bereitet und wohin läuft es hinaus? Bestenfalls dient es der literarischen Nachbetrachtung. Und damit soll es auch fast genug sein. Textänderungen sind jedoch in jedem Fall abzulehnen. Es stellt sich lediglich die Frage, inwieweit einzelne Märchen vortragbar erscheinen, resp. wie sie zu nutzen sind.
Quelle: Grimms Märchen, Vollständige Ausgabe, 943 Seiten, Anaconda
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Tanja Krienen, 11. Februar 2013