Krakau: Wörterbuch-Exemplare des Buchstabens D
(Grimmforum, 7. März 2006)

Die bisherigen Beiträge in diesem Forum zu den Grimmschen Handexemplaren des „Deutschen Wörterbuchs“ galten der von Jacob Grimm in der ersten Lieferung bearbeiteten Wortstrecke A bis ALLVEREIN. Hier berichten wir kurz über die von Wilhelm Grimm ausgearbeitete Wortstrecke D bis DARMBÄHE, DWB Bd. II, Sp. 641-780.

Jacob Grimms Exemplar (Libri impr. c. n. mss. 2° 37) zeigt ein ähnliches, aber viel weniger extensiv annotiertes Bild wie bei A. Etwa 10 der 70 gescannten Seiten weisen keine Notizen auf; auf anderen Seiten stehen nur verinzelt Zusätze und Anmerkungen; andere Spalten wiederum enthalten viel mehr Nachträge. Insgesamt wird deutlich, daß er die Arbeit seines Bruders sehr genau gelesen hat. Er fügt auch hier neue Stichwörter hinzu, einige in Versalien, einige dagegen, vor allem Subeinträge bei den Partikelverben mit DAHER und DAHIN etc., in Kleinbuchstaben: darauf geht Wilhelm Braun in einem gesonderten Beitrag näher ein. Die meisten Annotationen sind zusätzliche, aus schriftlichen Quellen zitierte Textbelege und selbverfaßte Textbeispiele. Grimm vervollständigt einige Quellen- und Belegstellenangaben und trägt einige Querverweise ein. Selten kommentiert er die Arbeitspraxis seines Bruders. Ein aufschlußreiches Beispiel hierfür ist DAME auf Sp. 702, wo Jacob Grimm zunächst Wilhelms Angabe, daß es „wahrscheinlich erst in der zweiten hälfte des 17ten jahrhunderts bei uns eingeführt ist“, in Frage stellt und am breiten rechten Rand viele Belege nachträgt, die ein früheres Vorkommen belegen. Es erhebt sich die Frage, ob er eigens dazu eine kleine Untersuchung durchgeführt oder aber mit der für ihn typischen Nachlektüre der Quellen und mit seiner ernormen Kenntnis gearbeitet hat? In der Neubearbeitung des DWB und des historischen „Deutschen Fremdwörterbuchs“ wird das deutsche Lehnwort Dame jetzt übrigens übereinstimmend auf 1592 zurückdatiert.
Bei Wilhelm Grimms Exemplar (Libri impr. c. n. mss. 2° 34) handelt es sich wiederum offensichtlich um Revisionsbogen. Die meisten Korrekturen und Nachträge, seien es Textbelege, seien es Syntagmen als Beispiele, stammen vom Korrektor Rudolf Hildebrand. Es ist auffällig, daß in der Druckfassung Wilhelm Grimm die allermeisten berücksichtigt und übernommen hat. Dies trifft ebenfalls auf die Notizen des Verlegers Salomon Hirzel zu: zu beinahe 20 Stichwörtern trägt Hirzel an den Rändern zusätzliche Textbelege nach, ganz besonders aus Goethe und Schiller, und diese Belege werden in die endgültige Fassung der Buchhandelsausgabe auch aufgenommen. Am unteren Rand von Sp. 706 trägt er beispielsweise zwei Belege aus Goethe zum Stichwort DAMM nach und unterhalb Sp. 742 zwei Goethe-Belege für DANN. Auf Sp. 670 fügt Hirzel einen Textbeleg aus Schiller für das Stichwort DACHUNG hinzu, und in der gleichen Spalte korrigiert Hildebrand u.a. die unalphabetische Anordnung der Stichwörter DACHTRAUFE bis DACHTSTANGE.

In einigen wenigen Fällen lesen sich die Notizen Hirzels wie Briefe an Wilhelm Grimm. So steht z.B. am unteren Rand zwischen Spalten 676 und 677: „der setzer bittet ehrerbietig um etwas brot“ und unterhalb Sp. 714: „MS dankbar erhalten“.
Im Gegensatz zu den vorliegenden Seiten aus A finden sich diesmal auch Notizen von Wilhelm Grimm selbst. Oberhalb Sp. 641 hat er beispielsweise das Empfangsdatum der Korrektur notiert: „31 märz 1855“, und oberhalb Sp. 770: „am 29ten O[ct.?]“. Am linken Rand oberhalb Sp. 777 schreibt er: „Ich bitte mir noch eine Revision zu senden“. Die vier Spalten 777-780 liegen unter den gescannten Seiten in nicht weniger als drei Fassungen vor. In der ersten Fassung finden sich zahlreiche Korrekturen und Nachträge von Wilhelm Grimm selbst. In der zweiten Fassung, wohl der von Wilhelm erbetenen nochmaligen Revision, kommen Notizen von Hildebrand und Hirzel vor, wie sie sonst von Sp. 641 bis 776 verzeichnet sind. Die dritte Fassung entspricht genau der Buchhandelsausgabe und weist keine Notizen mehr auf. (Nebenbei angemerkt: Die anschließenden vier Spalten 781-784 liegen ebenfalls in drei Fassungen vor.) Die Klärung der hier aufgeworfenen Fragen nach den verschiedenen Stadien der Korrektur und Revision muß einer genaueren Untersuchung vorbehalten bleiben.

Insgesamt läßt sich aus den vorliegenden gescannten Ausschnitten aus den Grimmschen Handexemplaren folgendes schließen:
Bei Jacob Grimms Exemplar handelt es sich – wie zu erwarten war – um die Buchhandelsausgabe auf gutem Schreibpapier mit breitem Rand, die der Verleger eigens hergestellt hat, damit die Grimms wohl mit Blick auf eine etwaige zweite Auflage Nachträge und Zusätze hinzufügen könnten. Jacob hat einer solchen zweiten Auflage auch vorgearbeitet, wohl wissend, daß er selbst sie nicht mehr erleben würde.
Bei Wilhelm Grimms Exemplar handelt es sich – wider Erwarten – um Korrektur- und Revisionsbogen, die vor allem Notizen von Rudolf Hildebrand und Salomon Hirzel aufweisen. Sie bieten für eine etwaige zweite Auflage kein neues Material, sind dahingegen für die Entstehung der Erstbearbeitung sehr aufschlußreich. Sie werfen zugleich die Frage auf: wo befindet sich das Exemplar Wilhelms auf gutem Schreibpapier mit breitem Rand? Der erste Band wird jetzt im Museum Haldensleben aufbewahrt, aber der Standort des zweiten Bands ist noch unbekannt.
Ob überhaupt, und wenn ja, inwieweit sich diese vorläufigen Ergebnisse bestätigen werden, wird sich erst bei der Autopsie der übrigen jetzt in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau wieder zugänglichen Handexemplare ergeben.

(Bilder: ehemalige Preußische Staatsbibliothek, z. Z. in der Biblioteka Jagiellonska Kraków, Libri impr. c. n. mss. 2° 37, Sp. 702, und 2° 34, Sp. 670)
Alan Kirkness

Alan Kirkness, 7. März 2006

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