Medienberichte und Reaktionen aus Politik und Gesellschaft 2007 / 2008 (Auswahl) (Hervorhebungen durch Fettdruck: Grimmnetz)
FAZ, 17. 11. 2006: Wem gehören die Handexemplare der Brüder Grimm?
Als im vergangenen Sommer die Handexemplare der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm ins erlauchte Weltdokumentenerbe der Unesco aufgenommen wurden (F.A.Z. vom 22. Juni 2005), gab es niemanden, der diese Entscheidung nicht begrüßt hätte. Die Bücher, in denen die Autoren fleißig notierten, wer ihnen die jeweiligen Märchen erzählt hatte und in einem langwierigen Umarbeitungsprozeß ihrer Sammlung erst die Gestalt der letzten Fassung gaben, sind nicht nur für die Forschung von hohem Wert.
Knapp anderthalb Jahre später gibt es nun aber Streit um die Frage, wem die Kostbarkeiten eigentlich gehören. Auf der Internetseite der Unesco reklamiert die Brüder-Grimm-Gesellschaft e. V. in Kassel die Bände für sich. Als Autor des Beitrags zeichnet Bernd Lauer, Geschäftsführer der Grimm-Gesellschaft und Leiter des städtischen Grimm-Museums in Kassel. Wissenschaftler aus Kassel, Berlin und Auckland in Neuseeland behaupten jetzt in einem Brief an die Unesco, der dieser Zeitung vorliegt, daß Lauers Angaben falsch seien: Die Bände, schreiben die Autoren, unter denen sich mit Axel Halle auch der Direktor der Kasseler Universitätsbibliothek befindet, gehörten eigentlich ebendiesem Haus — und nicht der Grimm-Gesellschaft.
Den Brief unterschrieb auch Wolfgang Windfuhr, von 1997 bis 2005 Präsident der Gesellschaft. Unter seine Ägide fiel die Aufnahme der Märchen ins Weltdokumentenerbe. Auf die Frage, warum er das Schreiben unterzeichnet habe, sagt Windfuhr, er fühle sich als früherer Präsident mitverantwortlich für die doch offenkundige Eigentumsanmaßung der Gesellschaft. Er habe — wie zahlreiche Wissenschaftler — damals nicht an der Version gezweifelt, die Werke gehörten der Grimm-Gesellschaft. Nun aber wolle er, angesichts der Faktenlage, die notwendige Korrektur befördern.
Und die sehen die Briefautoren, von denen einige der mit Kassel konkurrierenden Berliner Grimm-Sozietät (F.A.Z. vom 2. Februar) nahestehen, so: Im Antrag Lauers an die Unesco heiße es fälschlich, nach der Gründung im Jahr 1897 habe die Gesellschaft von Herman Grimm, dem ältesten Sohn Wilhelm Grimms, die Handexemplare der Märchen sowie das Handexemplar der „Deutschen Grammatik" von 1819 für die Kasseler Grimm-Sammlung zum Geschenk erhalten.
Doch die Recherche der Briefautoren förderte anderes zutage. Danach wurde die „Kasseler Grimm-Gesellschaft" 1897 ausdrücklich gegründet, um Erinnerungen an die Brüder Grimm zu sammeln, damit diese Sammlung nach Paragraph 2 der Satzung „in das Eigentum der genannten Anstalt übergeht". Und die sei eben die Landesbibliothek zu Kassel, deren Rechtsnachfolgerin heute die Kasseler Universitätsbibliothek ist. Im Geschäftsbericht der Kasseler Grimm-Gesellschaft von 1906 heißt es denn auch: „So konnten in der ersten Zeit verschiedene wünschenswerte Ankäufe nur dadurch ermöglicht werden, daß die Kosten getragen wurden von der Landesbibliothek, der ja satzungsgemäß alle Erwerbungen der Gesellschaft als Eigentum zuzufallen hatten.“
Die Gesellschaft löste sich am 8. Juni 1920 auf, denn ihre Mitgliederzahl war auf siebzehn gesunken, und es bestand „keinerlei Aussicht, daß die Gesellschaft mit den geringfügigen Geldmitteln, die aus den Jahresbeiträgen fließen, ihrer satzungsmäßigen Aufgabe gerecht werden kann". Nach Paragraph 9 der Satzung übergab die Gesellschaft den gesamten Besitz der Landesbibliothek. Die heutige Grimm-Gesellschaft wurde nach den Recherchen der Briefautoren am 13. April 1942 gegründet und ist nicht Rechtsnachfolgerin der Gesellschaft von 1897. Sie setzte sich vielfältige Ziele — aber die Sammlung von Grimm-Werken oder Erinnerungsstücken gehörte nicht dazu.
Auch die Behauptung, Herman Grimm habe die Handexemplare der Märchen und der Grammatik der Gesellschaft von 1897 zum Geschenk gemacht, sehen die Autoren des Briefes als widerlegt an. Im Rechenschaftsbericht der Gesellschaft von 1906 ist zu lesen, Herman Grimm habe der Gesellschaft 600 Mark als Beihilfe für eine Publikation übergeben und einen Koffer der Brüder Grimm.
Von den Märchen und der Grammatik ist nicht die Rede. Das verwundert die Kritiker des Interneteintrags nicht, denn sie verweisen auf einen Brief des Grimm-Forschers Johannes Bolte vom 8. Oktober 1932 an den Direktor der Kasseler Landesbibliothek, Wilhelm Hopf. In dem handschriftlichen Brief schrieb Bolte: „Als mir Herr Professor Herman Grimm vor mehr als dreißig Jahren die Handexemplare der Brüder Grimm von den Kinder- und Hausmärchen für die neue Bearbeitung der Anmerkungen übergab, bestimmte er, daß diese Bücher nach Erledigung meiner Arbeit an die Grimm-Sammlung der Casseler Landesbibliothek übergehen sollten. Diesem Auftrag gemäß erlaube ich mir, Ihnen diese neun Bände zu übergeben.“ Hopf bestätigte, die Sendung sei „richtig und vollständig" in der Landesbibliothek eingegangen. Die Recherchen ergaben zudem, daß Herman Grimm die zwei Bände der „Deutschen Grammatik“, auch im Namen seiner Geschwister, der Landesbibliothek zu Kassel am 4. Januar 1885 aus Anlaß des hundertsten Geburtstags von Jacob Grimm schenkte. Das belege ein Dankbrief des Bibliotheksdirektors Albert Duncker an Herman Grimm vom 15. Januar 1885.
Der Direktor der Kasseler Universitätsbibliothek sieht nun „die Frage wissenschaftlicher Redlichkeit“ aufgeworfen. Es gelte zwar, einen Rechtsstreit zu vermeiden. Aber es dürfe nicht sein, sich Eigentumsrechte durch Geschichtsklitterung anzumaßen. Und da erscheint auch das Manuskript einer Rede, die Lauer 1997 zum Thema „100 Jahre Brüder Grimm-Gesellschaft e.V.“ hielt, nun in einem anderen Licht. Er zitierte zwar Paragraph 2 der Satzung, ließ aber den Teilsatz aus, daß die gesammelten Werke und Erinnerungen an die Landesbibliothek zu übergeben seien.
Schließlich weckt auch ein Schriftwechsel von 1985 zwischen der Hochschule und der „Veranstaltungsgesellschaft 200 Jahre Brüder Grimm“ Neugier. Damals wurde im Museum Fridericianum eine Grimm-Ausstellung ausgerichtet. Zu einigen Exponaten wurden offenbar falsche Angaben über den Eigentümer gemacht. In einem Brief der Veranstaltungsgesellschaft an den Präsidenten der Hochschule heißt es: „In der Tat sind die aus Ihrer Bibliothek entliehenen Exemplare für die o. g. Ausstellung bei der Hektik der Vorbereitungsarbeiten hinsichtlich ihrer Provenienz unterschiedlich ausgezeichnet worden. Ich sehe leider keine Möglichkeit mehr, diesen Sachverhalt im Katalog zu ändern, da dieser bereits in der voraussichtlich benötigten Auflagenhöhe gedruckt vorliegt.“ [...]
Text: Claus Peter Müller in: F.A.Z., 17. 11. 2006, Nr. 268 / Seite 39
... HNA Kassel, 17. 11. 2006: Streit um Welterbe
[...] Sieben Wissenschaftler und Bibliothekare haben jetzt in einem gemeinsamen Schreiben an die Unesco erklärt, alle überlieferten Fakten sprächen gegen die Behauptung der Grimm-Gesellschaft, ihr gehörten die Bücher und sie allein verfüge über alle Urheberrechte. Dieser Anspruch führt dazu, dass Wissenschaftler nur unter erschwerten Bedingungen mit diesen Handexemplaren arbeiten können.
Unstimmigkeiten
An die Unesco haben sich die Wissenschaftler deshalb gewandt, weil die fünf Handexemplare von Jacob und Wilhelm Grimm im vorigen Jahr in das Weltdokumentenerbe (Memory of the World) der Unesco aufgenommen worden sind. In den Unterlagen fand der neuseeländische Grimm-Experte Alan Kirkness Unstimmigkeiten in der Begründung, warum die Handexemplare Eigentum der Brüder Grimm-Gesellschaft seien. Daraufhin untersuchten Wissenschaftler in Berlin und Kassel, hier waren es vor allem Dr. Axel Halle und Dr. Konrad Wiedemann von der Universitätsbibliothek, die Quellen und kamen zu eindeutigen Ergebnissen: Nach dem Tod von Hermann Grimm kamen die damals neun Bände der Handexemplare 1899 in den Besitz von Johannes Bolte in Berlin. Der übersandte sie 1932 der Landesbibliothek Kassel, der (und ihren Nachfolgeeinrichtungen) sie seitdem gehörten. Nach Darstellung der Grimm-Gesellschaft sieht die Geschichte ganz anders aus: Hermann Grimm habe 1897 die Brüder Grimm-Gesellschaft mitbegründet. Von ihm habe die Gesellschaft die Handexemplare erhalten. Sie sei also seit über 100 Jahren Eigentümerin.
Doppelt falsch
Nach Einschätzung der Wissenschaftler ist diese Darstellung doppelt falsch. Erstens hätten sich, wie oben dargestellt, die Bände von 1899 bis 1932 in Berlin befunden. Zum zweiten sei die Grimm-Gesellschaft in ihrer heutigen Form erst 1942 gegründet worden. Die 1897 ins Leben gerufene Grimm-Gesellschaft sei mit der satzungsgemäßen Maßgabe 1920 aufgelöst worden, ihr Eigentum der Landesbibliothek zu übertragen. Der Geschäftsführer der Grimm-Gesellschaft, Dr. Bernhard Lauer, war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Der Präsident der Gesellschaft, Dieter Staubach, zeigte sich überrascht von dem Eigentumsstreit. Er will die Rechtsfrage prüfen lassen. Ihm liege aber nichts an einem Streit. Auf Anfrage meinte er: „Es ist mir eigentlich egal, wem die Bände gehören.“ Klar sei nur, dass sie nach Kassel gehörten und von allen genutzt werden könnten.
Text: Dirk Schwarze, HNA Kassel, 17. 11. 2006
Die Brüder Grimm und ihr Erbe: Dr. Bernhard Lauer im Grimm-Museum mit neuen Büsten der Brüder. (Bild HNA)
Im Streit um die Eigentumsrechte an den Handexemplaren der Kinder- und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm ist das Rechtsamt der Stadt eingeschaltet worden. Es soll prüfen, ob die Bände mit ihren handschriftlichen Eintragungen der Brüder-Grimm-Gesellschaft gehören, wie diese behauptet, oder der Universitätsbibliothek als Nachfolgerin der Landesbibliothek.
Ausgelöst wurde der Streit durch die Anerkennung der Märchen-Handexemplare als Weltdokumentenerbe der Unesco. In dem Antrag an die Unesco hatte der Geschäftsführer der Grimm-Gesellschaft, Dr. Bernhard Lauer, wiederholt geschrieben, dass die Gesellschaft seit 1897 ohne Unterbrechung Eigentümerin der Bände sei und über alle Urheberrechte verfüge. Wie berichtet, hat eine Gruppe von Wissenschaftlern dieser Darstellung widersprochen. Sie sind der Überzeugung, dass die Darstellung, die Grimm-Gesellschaft in drei Punkten falsch sei. Richtig sei:
1. Die 1897 gegründete Grimm-Gesellschaft besteht nicht ununterbrochen seit über 100 Jahren, sondern wurde 1920 aufgelöst. Laut Satzung ging ihr Eigentum an die Landesbibliothek über. Schon vorher hatte sie Bücher und Objekte, die an die Grimms erinnern, ausdrücklich für die Bibliothek erwerben sollen.
2. Zum Zeitpunkt der Auflösung befanden sich die umstrittenen Handexemplare nicht im Besitz der Grimm-Gesellschaft, sondern waren seit 1899 an Johannes Bolte in Berlin ausgeliehen, der die Kinder- und Hausmärchen bearbeitete. Der gab die (damals neun) Bände zurück — an die Landesbibliothek in Kassel.
3. Die 1942 gegründete Grimm-Gesellschaft sei nicht Rechtsnachfolgerin der aufgelösten Vereinigung gewesen. Auch seien die Bände weiterhin Eigentum der Landesbibliothek geblieben.
Die Wissenschaftler haben jetzt sämtliche Dokumente zu dem Fall ins Internet (www.grimmnetz.de) gestellt. Eine Stellungnahme zu dem Rechtsstreit lehnte der Präsident der Grimm-Gesellschaft, Klaus Dieter Staubach, im Hinblick auf die laufende Prüfung ab. Persönlich hält er die Gesellschaft für die rechtmäßige Eigentümerin - bis zum Beweis des Gegenteils.
Text: Dirk Schwarze, HNA Kassel, 9. 12. 2006
Kultur heute, Deutschlandfunk, 27. 12. 2006: Interviews mit dem Kasseler Kulturdezernenten Thomas-Erik Junge und dem Direktor der Universitätsbibliothek Kassel, Dr. Axel Halle
Bürgermeister Thomas-Erik Junge: den Nachweis zu führen, wer der wirkliche Erbe und Nachfolger ist, das ist wahrscheinlich wie im wirklichen Leben etwas kompliziert. ... [Die Handexemplare] gehören auf jeden Fall der Gesellschaft in Kassel, das heißt nicht der Brüder Grimm-Gesellschaft, damit will ich das nicht vorwegnehmen.
Geschäftsführer Bernhard Lauer will sich zu dem Streit offenbar nicht äußern
Bibliotheksdirektor Axel Halle: Vielleicht gibt es Unterschiede in der Auffassung, ob das städtisch oder Landeseigentum ist, aber es ist niemals Eigentum der Grimm-Gesellschaft ... Die Grimm-Gesellschaft hat das niemals erhalten und ist niemals Eigentümerin gewesen.
Zitate: Deutschlandfunk, 27. 12. 2006
Anfrage des Landtagsabgeordneten Aloys Lenz (CDU) an die hessische Landesregierung, 5. 1. 2007: Lenz möchte ... von der Hessischen Landesregierung Auskunft über die tatsächlichen Besitz- und Eigentumsverhältnisse an den unschätzbar wertvollen Büchern der Brüder Grimm.
(Screenshots: Hessenschau; rechts: Thomas-Erik Junge)
Thomas-Erik Junge, Kulturdezernent der Stadt Kassel: “Es ist so, daß die Schriften im Besitz der Stadt Kassel sind. [...] Wir werden jetzt in die Verhandlungen treten. Unser Oberbürgermeister trifft demnächst den Präsidenten der Universität, und ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß wir uns da wirklich gerichtlich oder so auseinandersetzen.”
Dr. Axel Halle, Direktor der Universitätsbibliothek Kassel: “Wir sind fest davon überzeugt, daß das unser Eigentum ist.”
Zitate: „Hessenschau“ des Hessischen Rundfunks, 25. 1. 2007
Erklärung des Vorstands der Grimm-Gesellschaft, Ende Januar 2007: Die Frage von Eigentum und Besitz wurde im Antrag an die UNESCO durch die BGG kurz, aber korrekt dargestellt (inzwischen auf der Website www.grimms.de nicht mehr zugänglich)
Zweite Erklärung des Vorstands der Grimm-Gesellschaft, 4. 2. 2007, mit Gutachten von E. Blume im Auftrag der Grimm-Gesellschaft: Grimm-Museum Gesellschaft bürgerlichen Rechts, Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. Mitbesitzerin (Dokumente inzwischen auf der Website www.grimms.de nicht mehr auffindbar)
[...] Für die Entscheidung der UNESCO spielten bestandsgeschichtliche sowie eigentumsrechtliche Fragen eine höchst untergeordnete Rolle; darauf wird weder auf der von der UNESCO ausgestellten Urkunde noch im letzten Schreiben der UNESCO in keiner Weise verwiesen. [...]
Zitat: Vorstand der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V., 3. 2. 2007
Bei Grimms ist Akt der Selbstreinigung gefordert. Das endlose Brüder Grimm Trauerspiel aus eitlem Wahn, politischer Handlungsschwäche und Kulturschabernack beschädigt inzwischen nicht nur das Ansehen der Stadt, sondern droht bereits auch auf Landesebene die Kampagne „Hessen: Brüder- Grimm Land“ in Mitleidenschaft zu ziehen, so der Fraktionsvorsitzende der FDP, Frank Oberbrunner
[...] in einem Schreiben an die Brüder Grimm-Gesellschaft vom 13.2.2007 stellt die UNESCO ausdrücklich fest, dass die Eigentumsfrage für das Weltdokumentenerbe keine Rolle spiele [...]
HNA Kassel, 15. 2. 2007: Immer neue „Wahrheiten”. Brüder Grimm-Gesellschaft beim Streit um Handexemplare im Zwielicht
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