Berliner Arbeitsstelle zu Kasseler Reformbemühungen
Benutzbarkeit der Kasseler Sammlungen
(Grimmforum, März 2006)

Mitglieder der Arbeitsstelle Grimm-Briefwechsel an der Humboldt-Universität zu Berlin haben sich kürzlich zu den Bemühungen um eine Reform der Brüder Grimm-Gesellschaft und des Brüder Grimm-Museums in Kassel geäußert:

Die Bemühungen um Reformen und eine Neuorganisation der Kasseler Grimm-Verhältnisse finden wir unbedingt unterstützenswert. Kassel ist eines der Zentren der Grimm-Überlieferung und der Grimm-Forschung. Es liegt im Interesse aller Interessierten, daß die große Kasseler Tradition auf einem hohen Niveau weitergeführt wird. Wir würden es sehr begrüßen, wenn die neuen Kasseler Grimm-Strukturen und ihre Vertreter ihre wichtige Rolle bei der gleichberechtigten und fairen Zusammenarbeit der mit den Brüdern Grimm befaßten Institutionen und Personen spielen würden. Eine der unseres Erachtens dafür nötigen Voraussetzungen ist es, daß die von der Brüder Grimm-Gesellschaft betreuten Buch- und Archivbestände so zugänglich gemacht werden, wie es bei anderen Sammlungen dieser Art selbstverständlich ist.✍

Grimm-Briefwechsel Berlin, 3. März 2006
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Zur Benutzbarkeit der Kasseler Grimm-Sammlungen während der letzten Jahre
Kassel besitzt mittlerweile zum zweiten Mal bedeutende Grimm-Sammlungen. Ein überwiegender und unersetzlicher Teil der alten Kasseler Grimm-Sammlung aber ist nach wie vor kriegsbedingt verschollen. Dies wiegt umso schwerer, als aus diesem verschollenen Teil der Sammlung nur ein verhältnismäßig geringer Anteil veröffentlicht wurde, das Gesammelte also nicht im historischen Gedächtnis verblieb, sondern sich zunächst an einem verborgenen Ort konzentrierte und dann mit diesem gelöscht wurde. Das Schicksal der ersten Kasseler Grimm-Sammlung läßt sich sinnbildhaft auf die in Kassel nach 1945 neu entstandenen Sammlungen beziehen. Der Besitz solcher Bestände verpflichtet dazu, alle Sorgfalt bei der sachgemäßen Verwahrung walten zu lassen, die Bestände der Erschließung und Publizierung zu öffnen und sich in erster Linie als treuhänderischer Sachwalter in der Überlieferungskette dieser Unika zu betrachten.

Unter den genannten Aspekten sind zu denjenigen Kasseler Grimm-Beständen, für die die Brüder Grimm-Gesellschaft Verantwortung trägt, kritische Anmerkungen angebracht. Klagen, daß der Zugang zu diesem Teil der Kasseler Sammlungen sich während der letzten 10 bis 15 Jahre sehr erschwert hat, kann man allenthalben hören, und es ist höchste Zeit, daß Abhilfe geschaffen wird. Bis in die erste Hälfte der 90er Jahre erfolgte der Zugang zu den im „Archiv“ des Brüder Grimm-Museums untergebrachten Beständen auf Grundlage eines Merkblatts, das sich sinnvoll an dem in Bibliotheken und Archiven üblichen Standard orientierte. Auf dieser Grundlage habe auch ich Anfang der 90er Jahre einige sehr ergebnisreiche Arbeitstage in den Räumen im Hochparterre der Murhard-Bibliothek verbracht, an die ich gern zurückdenke. Ab ca. 1993 / 94 wurde anreisenden Benutzern dann eine neue Benutzungsordnung vorgelegt, gemäß der pro Tag und Person nur noch 10 einzelne Stücke der Autographensammlung eingesehen werden konnten. Da die Autographen aus den Räumen der Murhard-Bibliothek an einen anderen Ort verbracht worden waren, sahen sich Benutzer zusätzlich mit logistischen, versicherungstechnischen und personellen Begründungen konfrontiert, die eine Benutzung der Bestände über die besagte Mengenbeschränkung hinaus komplizierten. Es kam auch zu Andeutungen, der Zugang könne noch weiter eingeschränkt oder untersagt werden, wenn wissenschaftliche Projekte unabhängig von denen der Kasseler Grimm-Gesellschaft weiterbetrieben und nicht nach deren Wünschen dort integriert würden. Meines Wissens ist es glücklicherweise allerdings nicht dahin gekommen, daß diese Andeutungen in die Praxis umgesetzt wurden.

Zu einer offiziellen Nachfrage wegen der eingetretenen Benutzungsbeschränkungen bei der Sadt Kassel, die wir nach dem Rat und Wunsch des Museumsleiters stellten, erhielten wir von diesem selbst am 15. September 1994 die briefliche Auskunft, daß wegen der schwierigen räumlichen und personellen Situation des Brüder Grimm-Museums verschiedene Sammlungsbestände hätten ausgelagert werden müssen, da keine Perspektive einer räumlichen Ausdehnung in der Murhard-Bibliothek bestehe. Dies bedeute, daß einige Sammlungsgruppen (Skulpturen, Gemälde, Autographen, Nachlässe, Sammlung Hausrat, Trivialzeugnisse, Teile der graphischen Sammlung u. a.) nur noch eingeschränkt benutzbar seien. „Von meinen (wenigen) Mitarbeitern, unter denen nur eine einzige Ganztagskraft ist, kann ich jedoch nicht erwarten, ständig Transporte zwischen nunmehr bereits drei verschiedenen Standorten zu organisieren.“

Diese Argumentation wirft Fragen auf. Ebenso — und zwar in sehr grundsätzlicher Weise — bereits die damalige Entscheidung zur Auslagerung der Sammlungsbestände, wobei zudem zu beachten wäre, daß ein erheblicher und besonders kostbarer Anteil davon ursprünglich von Bibliotheksseite zur Verfügung gestellt wurde und der Abtransport aus dem Bibliotheksgebäude auch aus diesem Grund fragwürdig war. Welche Priorität räumten die seinerzeit Verantwortlichen der sachgemäßen Unterbringung und der Zugänglichkeit der von ihnen betreuten Sammlungen ein? Wenn die getroffenen Entscheidungen sich rückschauend als der Benutzbarkeit abträglich herausstellen, was sind dann die Motive gewesen, gleichwohl so zu entscheiden? Ist es eine abwegige Vermutung, die Sammlungsbestände seien zum Spielball taktischer Interessen gemacht worden? Welche Strategie stand im einzelnen dahinter? Lassen diese und jene sich mit den Grundsätzen eines verantwortlichen Umgangs mit solchen Beständen, wie sie Standard in Bibliotheken, Museen, Archiven usw. sind, vereinbaren? Ist es nicht so, daß die Ausstrahlung Kassels als Grimm-Stadt sich erstens nach den Ausstellungen des Grimm-Museums und zweitens nach den einzigartigen Grimm-Beständen bemißt (die Reihe läßt sich fortsetzen)? Sind die Grimm-Bestände derzeit ihrem Potential entsprechend wirksam, oder werden sie trotz (und dann gewissermaßen auch wegen) der in den letzten Jahren durch neue Erwerbungen vorgenommenen Ausdehnung allmählich zum bloßen Mythos, weil es nicht — oder zumindest einem Teil der daran interessierten Wissenschaftler nicht — möglich ist zu ermitteln, welche Quellen zu einzelnen Forschungsgebieten sich tatsächlich in den Beständen befinden? Sind die Sammlungen überhaupt zur Zeit so verwahrt, daß sich der Zustand und die Vollständigkeit jederzeit überprüfen lassen? Welche Schritte müßten gegangen werden, damit ein normaler, den üblichen Standards entsprechender Archivbetrieb gewährleistet werden kann? Ist das Museum fachlich und personell der richtige Ort dafür? Sollte ein anderer Ort gewählt werden, der über die erforderlichen Kompetenzen und Kapazitäten der archivischen und bibliothekarischen Arbeit bereits verfügt, nachdem mehr als zehn Jahre in mehreren Etappen eine Verschlechterung vorgegangen ist? Oder sind die Grimm-Bestände es der Stadt Kassel und der Brüder Grimm-Gesellschaft wert, für sie eine eigenständige, funktionierende Institution zu schaffen? Wie kann dann gleichwohl das Verhältnis zur Bibliothek gestaltet werden, aus deren Beständen sich so immens vieles in den fraglichen Sammlungen befindet, und wie das zum Museum? Wann kann die Grimm-Forschung damit rechnen, daß die im Verantwortungsbereich der Brüder Grimm-Gesellschaft befindlichen Bestände zu regelmäßigen Öffnungszeiten zuverlässig und in ihrer Gesamtheit so zugänglich gemacht werden, wie es andere ähnliche Institutionen (auch in Kassel) selbstverständlich leisten?

Berthold Friemel, 7. März 2006

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