Von einem Kollegen erhielten wir folgende Frage:
In einem Schreiben erwähnt W. Grimm im Zusammenhang mit dem Wechsel von Kassel nach Göttingen ein abfälliges Wort des Kurfürsten „die Herrn Grimms gehn weg! groszer Verlust! Sie haben nie etwas
f ü r m i c h gethan!“ (Wendeler-Edition, Nr. 61, S. 122). Kennst du einen weiteren Beleg oder gar ein Dokument, wo diese Worte bestätigt werden?
Die Äußerung steht im Zusammenhang mit der Kündigung der bisherigen Stellen an der Kurfürstlichen Landesbibliothek in Kassel durch die Brüder Grimm Ende Oktober 1829.
Nachdem der Direktor der Bibliothek, Johann Ludwig Völkel, verstorben war, legten sie dem Kurfürsten Wilhelm II. zunächst folgenden Antrag vor, dass Jacob Grimm auf die bisherige Stelle des Verstorbenen und Wilhelm Grimm auf die seines Bruders vorrücken möge:
Der Bibliothekar Dr. Jacob Grimm und der Bibliothek-Secretar Dr. Wilhelm Grimm … bitten allerunterthänigst dem Bibliothekar die erste und dem Sekretar die dadurch erledigt werdende zweite Bibliothekarstelle huldreichst zu verleihen.
(Edmund Stengel: Private und amtliche Beziehungen der Brüder Grimm zu Hessen. Bd. 2, Marburg 1886, S. 10)
Die Anträge wurden vom Kurfürsten am 5. 2. 1829 folgendermaßen beschieden:
Kurfürst Wilhelm II. schrieb:Beyde Gesuche werden abgeschlagen; welches das Oberhofmarschall-Amt denselben bekannt zu machen hat.
(ebd., S. 11)
Jedoch erhielt Wilhelm Grimm ab dem 1. 3. 1829 eine Gehaltszulage von 100 Talern jährlich (ebd.).
In der Annahme, dass sie in Kassel keine wesentliche Verbesserung ihrer sozialen Lage mehr erwarten dürften, unterhandelten die Brüder Grimm im Lauf des Jahres 1829 mit der Universität Göttingen und wurden dorthin berufen. Daraufhin beantragten sie Ende Oktober in Kassel ihre Entlassung. Die beiden Abschiedsgesuche sind nicht nachweisbar. Der Kurfürst bewilligte die Entlassungen sofort und reichte die Gesuche an das Oberhofmarschallamt wegen der Ausfertigung der „flachen Abschiede“ weiter sowie
Kurfürst Wilhelm II. schrieb:
an d. Museums- u. Archiv-Dir. Rommel um zweckmäszigere und für den Dienst vortheilhaftere Vorschläge wegen Wiederbesetzung eines Bibliothekars nebst eines Scribenten zu thun und die Instruction vorschläglich dahin abzuändern, dasz gedachte bei der Bibliothek angestellt Werdende mehr für die Bibl. als für sich selbst arbeiten.
(ebd.)
Diese Aktennotiz enthält also sinngemäß jene Aussage, nach der wir gefragt wurden. Auch der Wortlaut, den Wilhelm Grimm in seinem Brief an Meusebach zitiert, dürfte zutreffen. Vermutlich ist er im Zusammenhang mit der Ausfertigung der Abschiede gefallen und den Grimms von einer Person, die am Hof Zugang hatte, berichtet worden. Begreiflicherweise bleibt die Quelle ungenannt (es könnte sich um den Kammerherrn von der Malsburg, den Bruder eines verstorbenen Freundes der Grimms, handeln, der häufig mit dem Kurfürsten Umgang hatte). Wilhelm Grimm notierte am 4. November 1829 in einem Tagebuch:
Wilhelm Grimm schrieb:
Der Kurfürst hat geäußert: „Die Hr. Grimms gehen weg, großer Verlust! sie haben nie etwas für mich gethan!“
(Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. Grimm o. Nr., B)
Das Bibliothekspersonal war Teil des Hofstaats und Bibliothek und Museum gehörten zur Hofhaltung. Der Kurfürst war offenbar der Meinung, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen, durch die Jacob und Wilhelm Grimm inzwischen die vermutlich berühmtesten Bürger Kassels waren, vor allem von einer Vernachlässigung ihrer Dienstpflichten zeugten. Erst etwas später erkannte man bei Hof aufgrund von Äußerungen des sächsischen Geschäftsträgers Lützerode bei einem großen Festessen, dass der Weggang der Grimms tatsächlich ein Verlust war. Die Mätresse Gräfin Reichenbach ließ den Grimms noch eine ganz wunschgemäße Stellung an der Bibliothek mit höherem Gehalt als in Göttingen anbieten, was diese aber nun nicht mehr annehmen wollten.
Holger Ehrhardt
Berthold Friemel
✍
Holger Ehrhardt und Berthold Friemel, 16. November 2009