Im Rahmen einer diesbezüglichen Anfrage aus Heiligenstadt haben wir in der Arbeitsstelle Grimm-Briefwechsel Textzeugnisse gesucht, die den Aufenthalt von Jacob und Wilhelm Grimm in Heiligenstadt belegen. Dabei waren die zu beantwortenden Fragen: Wann genau und zu welchem Anlass besuchten die Grimms Heiligenstadt? Wo waren sie dort untergebracht?
An dieser Stelle möchten wir unsere Ergebnisse für alle Interessierten zugänglich machen und gleichzeitig einen Diskussionsort schaffen, an dem das Thema „Grimms in Heiligenstadt“ durch Beiträge von verschiedenen Seiten und verschiedenster Natur (weitere Textbelege, Photos der Heiligenstädter Örtlichkeiten, etc.) möglichst umfassend dokumentiert werden kann.
Jacob und Wilhelm Grimm waren mindestens zweimal in Heiligenstadt, im April 1838 und im März 1841. In den folgenden beiden Beiträgen möchte ich unsere bisherigen Erkenntnisse zu diesen Aufenthalten zusammenfassen und dabei auch noch offene Fragen thematisieren.
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Constantin Stroop, 18. November 2009
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1838
1838
Im April 1838 trafen sie sich hier mit Familienangehörigen und Bekannten. Ein wichtiges Anliegen der Brüder war es bei diesem Treffen, sich mündlich über ihre Pläne zum „Deutschen Wörterbuch“ auszusprechen. Dabei ging es auch um die Erörterung der genauen Verlagskonditionen und ein diesbezügliches Angebot des Verlegers Karl Reimer.
Nach Jacobs politisch erzwungener Übersiedlung nach Kassel lebten er und Wilhelm, der in Göttingen geblieben war, getrennt und hatten sich nur brieflich über das Wörterbuch-Projekt verständigen können. Dementsprechend findet sich eine deutliche Spur des Heiligenstädter Zusammentreffens von 1838 im Briefwechsel der Brüder mit den Verlegern des „Deutschen Wörterbuchs“ Karl Reimer und Salomon Hirzel.
Auf Reimers Brief und Angebot vom 6. April (Kritische Ausgabe, Bd. 5, S. 58 f., Nr. 9) antwortet Jacob, „Cassel 26. apr. 1838.“:
„Werthester freund,
Unsere erklärung auf Ihren antrag ist durch den erst vor einigen tagen ausgeführten plan einer zusammenkunft in Heiligenstadt, wo wir uns mündlich berathen wollten, verzögert worden. Ich stehe nun nicht länger an Ihnen bestimmt zu antworten.
[…]“ (Ebd., S. 59 f., Nr. 10)
Einen kleinen Einblick in diese „zusammenkunft in Heiligenstadt“ gibt Jacob in seinem Brief an Wilhelm vom 24. April:
„Lieber Wilhelm, ich bin sonnabend nachmittag gegen 5 uhr mit dem Luis wieder hier eingezogen; wie schnell gewöhnt man sich an einen ort und an seine geringe bequemlichkeit, ich fühlte mich nach der rückkehr ordentlich wie zuhause, obgleich ich euch eben erst verlassen hatte, aber an einem dritten ort, und bloss nach einigen stunden unruhiger wiedervereinigung. wenn dir, Dortchen, und den kindern nur der rauhe wind, zumal beim gang in die kirche, nichts geschadet hat. Ich blieb mit der Dahlmann bis abends 10 uhr zusammen und sonnabend morgen noch eine halbe stunde. Zu Grossalmerode, wo mittag gegessen werden sollte, aber wie gewöhnlich nichts zu haben war ausser eiern und käse, trafen wir mit einem schulmeister und einer art von actuar zusammen, die von dem Witzenhäuser einzug ergötzlich redeten. der letzte erzählte mir ins gesicht, ohne mich zu kennen, den Grimm habe er dort auch gesehn.
[…] wir müssen in unsern umständen sparen, besonders da mich diese heiligenst. reise 17 rthlr. gekostet hat. doch wars des geldes werth, nicht wahr?“ (Kritische Ausgabe, Bd. 1.1, S. 636 f., Nr. 387; s. auch Wilhelms Antwortbrief: Ebd., S. 637, Nr. 388)
Offenbar trennten sich Jacob und Wilhelm im Verlauf des 20. April (Freitag) wieder, weswegen Jacob dem Bruder von seiner Beschäftigung am Abend und darauffolgenden Morgen berichten muss. Wilhelm und die übrigen Göttinger (mindestens noch Dortchen und Herman Grimm) verließen also vielleicht schon am Freitag wieder Heiligenstadt. Neben der nicht unbeträchtlichen Wegstrecke zwischen Göttingen und Heiligenstadt (ca. 30 km) spricht auch Wilhelm Grimms Tagebucheintrag von 1841, man habe „dieselben zimmer, die wir im j. 1838 inne hatten“ (zitiert nach dem Katalog: Die Brüder Grimm in Berlin. Stuttgart 2004, S. 66), gehabt, dafür, dass auch die Göttinger 1838 in Heiligenstadt übernachtet haben. Ob ihr Aufenthalt aber evtl. noch vor dem dann als wahrscheinliches Ankunftsdatum anzunehmenden 19. April (Donnerstag) begann, kann nach unserem bisherigen Kenntnisstand nicht abschließend beurteilt werden. Als weiteres Indiz für die genauen Reisedaten könnte lediglich eine auffällige Lücke in der Briefproduktion beider Grimms aufgeführt werden. Soweit bekannt, schrieben sie in dieser Zeit bis zum 16. April regelmäßig mindestens einen Brief pro Tag, zwischen 17. und 21. April jedoch schrieb keiner von ihnen auch nur einen Brief. Danach wäre es denkbar, dass beide schon am 17. April von Kassel und Göttingen aufbrachen und im Verlauf des Tages in Heiligenstadt zusammentrafen. In dieser Konstellation hätten Wilhelm und die anderen Göttinger Mitreisenden vom 17. (Dienstag) bis 20. April (Freitag), Jacob, Ludwig Emil und sonstige aus Kassel mitgereiste Personen vom 17. bis 21. April (Sonnabend) in Heiligenstadt verweilt. Gegen diese These eines mehrtägigen Treffens der Grimms spricht freilich einerseits Jacobs oben zitierte Äußerung von „einigen stunden unruhiger wiedervereinigung“, andererseits auch Wilhelms Brief an Karl Lachmann vom 27. April, in dem er explizit auf den 20. April (Freitag) als den offenbar einzigen Tag der Zusammenkunft verweist:
„Wir hatten vorigen Freitag, (die Kinder waren auch mit) ein Rendezvous mit Jacob in Heiligenstadt. Er war wohl und sah in einem schönen Pelzkragen, den sie ihm dort geschenkt haben, ganz stattlich aus.“ (Leitzmann, Bd. 2, S. 894, Nr. 48)
Luise Dahlmann und ihre (Stief-)Tochter Dorothea kamen vermutlich mit den Göttingern nach Heiligenstadt, um von hier aus weiter nach Jena zu reisen, wo sich ihr Mann bzw. Vater Friedrich Christoph Dahlmann derzeit aufhielt. So schreibt Jacob Grimm an diesen am 28. April 1838:
„Liebster Freund, Luise und Dorothee werden, denke ich mir, letzten Sonntag oder vielleicht erst Montag, wohlbehalten bei Ihnen angelangt sein. Es war eine hübsche Zusammenkunft in Heiligenstadt, wobei nur Sie fehlten.“ (Ippel, Bd. 1, S. 162, Nr. 97)
Eduard Ippel nimmt in seiner Briefedition desweiteren für einen offenbar unmittelbar vorhergehenden Brief Jacob Grimms an Dahlmann als Absendeort Heiligenstadt und als ungefähres Datum den April 1838 an (Vgl. Ippel, Bd. 1, S. 162, Nr. 96). Der betreffende Brief erhält im Wesentlichen nur eine kurze Mitteilung über die Position der Grimms zum Wörterbuch-Projekt, die sich inhaltlich, was den Stand der Verlagsverhandlungen angeht, in der Tat sehr gut in eben diese Zeit des Heiligenstädter Treffens 1838 einfügen lässt.
Der genaue Unterkunftsort der Grimms 1838 in Heiligenstadt erschließt sich durch Texte über Grimms Reise 1841 von Kassel nach Berlin. Herman Grimm schreibt sowohl in einem Notiz- und Skizzenbuch, als auch in einem Brief an Ludwig Emil Grimm und andere Kasseler Verwandte vom „deutschen Haus“ als Ort der Unterkunft. (Siehe hierfür ausführlicher den Beitrag zum Heiligenstädter Aufenthalt 1841.) Zusammengenommen mit Wilhelm Grimms oben bereits zitiertem Tagebucheintrag, in welchem er die Heiligenstädter Unterkünfte beider Aufenthalte miteinander identifiziert, beantwortet dies die Unterkunftsfrage auch für 1838 eindeutig.
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Constantin Stroop, 18. November 2009
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1841
Für Grimms zweiten Heiligenstädter Aufenthalt gestaltet sich die Rekonstruktion weitaus weniger kompliziert. Insgesamt sind wir auf drei Texte gestoßen, die Heiligenstadt explizit nennen.
Wahrscheinlich noch auf der Reise und vielleicht sogar noch in oder zumindest in räumlicher Nähe zu Heiligenstadt notiert Herman Grimm das Umzugsgeschehen und sonstige Eindrücke in einem Notiz- und Skizzenbuch.
„Wie um 1/2 8 Uhr in Heiligenstadt aussteigen wollten schrammte sich die Mutter das Schienbein, was ihr sehr weh thut, aber nicht sehr schlimm ist. Wir schlafen hier im deutschen Haus wo das Rehchen[?] war, was ich aber nicht wieder gesehn habe. Ich habe die Leüte in W.hen abzeichnet im Wagen sitzend jetz bin ich sehr hungrig und der Thee wird bald aufgetragen“ (Notiz- und Skizzenbuch Herman Grimms; Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessens Bad Homburg v. d. H., 1.3.253)
Nach erfolgter Ankunft in Berlin berichtet Herman dann in einem Brief an seinen Onkel Ludwig Emil Grimm, dessen Frau Marie und deren Mutter von der Reise:
„Lieber Onkel, liebe Tante und Großmutter!
Ich will Euch unsere Reise so gut ich kann beschreiben.
[…] In Witzenhaußen waren also die Göttiger[!] in 4 Wagen welche es waren das schreibt Euch der Rudolf, übrigens aßen wir sehr lange und fuhren ¼ 4 Uhr nach Heiligenstadt ab, wo wir fri[s]ch u gesund aber sehr müde ankamen […]. Wir logirten hier im deutschen Haus, den Morgen um 4 Uhr fuhren wir weg […].“ (Herman Grimm an Ludwig Emil Grimm u.a., Berlin, 19. März 1841, zitiert nach dem Katalog: Die Brüder Grimm in Berlin. Stuttgart 2004, S. 62.)
Des Weiteren notiert Wilhelm Grimm über den Umzug nach Berlin und mit Bezug auf die von Herman genannte Göttinger Abordnung in seinem Tagebuch:
„Sie waren in vier wagen gekommen, um 3 uhr fuhren wir weiter, von allen zum wagen begleitet. wir kamen in der dunkelheit in Heiligenstadt an, und hatten dieselben zimmer, die wir im j. 1838 inne hatten.“ (Wilhelm Grimms Tagebuch, 14.-24. März 1841.)
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Constantin Stroop, 18. November 2009
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Zeitungsbericht über das Treffen in Heiligenstadt
Wilhelm Schoof zitiert in seiner Biographie über Wilhelm Grimm (1960, S. 319) einen Zeitungsbericht über das Treffen in Heiligenstadt
Gutzkows ‚Telegraph für Deutschland‘ schrieb:
Die Namen, auf die Göttingen noch vor kurzer Zeit als auf die seinen stolz war, sie mußten an der hannoverschen Grenze herschleichen, um der Polizei nicht in die Hände zu fallen! Ich dachte, diese Namen hier vereint geschrieben, seien ein Document zur Geschichte Göttingens, und schob meinem Reisegefährten das Buch zu. Der Kellner sah es, er war aus Göttingen – und erklärte: ‚Wir haben vorgestern viele Göttinger hier gehabt, Wilhelm Grimm, eine Menge Privatdozenten, auch Frauen und Kinder, auch aus Cassel zwei, der Eine klein, untersetzt, immer freundlich, ‚kregel‘ und munter, mit dichten grauen Locken (Jacob), der Andere stämmig, Schnauzbart, lustig (Ludwig Emil Grimm) – sie haben hier große Tafel gehalten. Die Dahlmann ist nach Jena weitergereist.‘ Jetzt sind fünf Vierteljahre verstrichen. Die drei Verbannten sind noch nicht wieder in Göttingen gewesen. Dahlmann lebt in Kiel, Gervinus in Heidelberg, und Jacob schreibt mir aus Cassel: ‚Neulich hatten wir zu Veckerhagen, sieben Stunden von hier, an der Weser, eine Zsammenkunft mit O. Müller, Ritter, Schneidewin und andern Göttinger Freunden; und noch muß ich um meine Briefe an meinen Bruder ein Couvert mit der Adresse eines Dritten legen. Sie könnten sonst aufgefunden werden.‘
(Auf den Auszug dieses Zeitungsartikels bei Schoof wurde ich durch die neue Grimm-Biographie von Steffen Martus aufmerksam, wofür ich mich herzlich bedanke.)
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Berthold Friemel, 18. November 2009
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Nachtrag 2020:
Deutsches Haus in Heiligenstadt, seit 2010 mit Gedenktafel an den Aufenthalt der Brüder Grimm
(Heilbad Heiligenstadt Wilhelmstraße 41 Deutsches Haus, Schulhaus der Jesuiten, Bischöfliches Kommissariat des Eichsfeldes, heute Gerichtsgebäude 1, Bild von NoRud auf Wikipedia, Lizenz CC 4.0)