Grimm-Handexemplare des „Deutschen Wörterbuchs“
(Grimmforum, Januar 2006)

Grimm-Handexemplare des “Deutschen Wörterbuchs” in Krakau

Zum Start des Grimmforums nutze ich diese neue Informationsmöglichkeit, um eine kaum noch erwartete, aber für die Grimmforschung hochbedeutende Entdeckung näher bekanntzumachen: daß nämlich die lange kriegsbedingt als verschollen geltenden Handexemplare des “Deutschen Wörterbuchs von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm” aufgefunden worden sind. Dieser Fund dürfte für alle Grimmforscher(innen), insbesondere natürlich diejenigen, die sich für Jacob und Wilhelm Grimm als Lexikographen und für das “Deutsche Wörterbuch” interessieren, von großer Bedeutung sein. Für mich persönlich beispielsweise ging damit eine mehr als 30jährige Suche glücklich zu Ende, und ich weiß, daß ich keineswegs allein auf der Suche war. Der letzte Versuch, die Exemplare zu finden, knüpfte 2005 an die mehrjährigen Forschungsreisen und Rundfragen Werner Schochows an. Auch er ging in seiner 2003 erschienenen Bilanz zum Verbleib ausgelagerter Bestände der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek Berlin (Bücherschicksale. Die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek, dargestellt aus den Quellen. Berlin 2003) noch davon aus, daß die Grimmschen Handexemplare des Wörterbuchs verschollen seien. Seine Darstellung und der persönliche Kontakt zwischen ihm und der Berliner Arbeitsstelle Grimm-Briefwechsel wurden jedoch zum Anlaß, an den in Betracht kommenden Orten erneut konkret nachzufragen.
Im späten September 2005 teilte eine Mitarbeiterin der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau überraschend mit, daß die Handexemplare nach Restaurierung der Forschung in der Handschriftenabteilung der Bibliothek wieder zugänglich gemacht würden. Später übermittelte uns die Bibliothek eine genauere Beschreibung der Exemplare und freundlicherweise auch zwei Beispielbilder. Außerdem informierte sie verschiedene interessierte Institutionen in Deutschland, u. a. die Staatsbibliothek zu Berlin — Preußischer Kulturbesitz und das Brüder Grimm-Museum Kassel, offiziell über den Fund. Somit scheint die Zeit gekommen, von den Exemplaren auch hier im Grimmforum zu berichten.
Von Wilhelm und vor allem Jacob Grimm ist bekannt, daß sie ihre Handexemplare des Wörterbuchs als Arbeitsexemplare ständig benutzt und mit zahlreichen Nachträgen und Zusätzen annotiert haben. Von diesen Annotationen darf man sich vielfachen Aufschluß über ihre Lexikographie versprechen. Die insgesamt neun Bände können gewissermaßen als eine von den Brüdern Grimm selbst vorbereitete zweite Auflage ihres Anteils am “Deutschen Wörterbuch” angesehen werden.
Meine Anfragen bei verschiedenen polnischen Institutionen zum Verbleib der Handexemplare waren Teil einer Neusichtung der Archivüberlieferung zum Grimmschen Wörterbuch im Zusammenhang mit der Edition der Briefwechsel Jacob und Wilhelm Grimms mit ihren Wörterbuch-Verlegern Salomon Hirzel und Karl Reimer. Unter anderem wurden bei dieser Gelegenheit noch ein bisher unbekanntes detailliertes Arbeitsprotokoll Jacob Grimms zum Wörterbuch und ein weiteres, bisher auch unbekanntes Exemplar des Wörterbuchs aus seinem Besitz aufgefunden. Die Krakauer Nachricht war krönender Abschluß der Recherchen des Sommers 2005, denn sie traf wenige Tage nach Herbstanfang und am vorletzten Tag meines Berliner Aufenthalts ein. (Die Alexander von Humboldt-Stiftung ermöglichte mir diese Arbeiten 2005 mit einem mehrmonatigem Stipendium, für das ich auch an dieser Stelle herzlich danke.)
Anläßlich des 220. Geburtstages von Wilhelm Grimm am 24. Februar 2006 wird im Grimmnetz ausführlich über die Handexemplare des Wörterbuchs und andere neuentdeckte Materialien zur Wörterbucharbeit der Brüder Grimm berichtet. Erste Details aus den Bildern der Krakauer Exemplare wird Berthold Friemel in den nächsten Tagen hier im Forum einfügen. Ein ausführlicher Forschungsbericht zu den neuen Funden erscheint im Band 16 des „Brüder Grimm Gedenken” und geht dieser Tage in den Druck.
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Alan Kirkness


Alan Kirkness, 16. Januar 2006
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Bilder der Krakauer DWB-Handexemplare
Wie von Alan Kirkness in seiner Nachricht angekündigt, trage ich zu seiner einführenden Beschreibung Bilder nach. Es lagen zunächst zwei Bilder aus zwei der in Krakau aufgefundenen Bände vor.

Die insgesamt neun Bände erhielt die damalige Königliche Bibliothek in Berlin 1898 vom Sohn Wilhelm Grimms, Herman, mit der Information, die beiden stärkeren Bände seien das Handexemplar Wilhelm Grimms, die sieben dünneren das Handexemplar Jacob Grimms. Die Gliederung in Wilhelm Grimms Exemplar ist laut alten Katalogen der Berliner Staatsbibliothek A bis C = Band I, D bis E = Band II. Jacob Grimms Exemplar reicht ebenfalls laut alten Katalogangaben von A bis FROMM, es fehlen hiernach also nur einige wenige letzte Artikel, die er noch verfaßt hat.

Die zwei farbigen Bilder, die uns die Krakauer Bibliothek zunächst zur Verfügung stellte, stammen jeweils aus den ersten Bänden der beiden Exemplare, mit den alten Berliner Signaturen „Libri impressi cum notis manuscriptis 2° 33“ im Fall Wilhelms, dasselbe „2° 35“ im Fall Jacobs.
Bei Jacob Grimm, 2° 35, handelt es sich um die Wortstrecke ANNEHMEN bis ANNOCH, bei Wilhelm, 2° 33, um AUFSPRENGEN bis AUFSTEHEN. Hier zunächst der aufgeschlagene Band Jacob Grimms in Gesamtansicht:

Die breiten Ränder sind ausgiebig für Notizen benutzt; solche finden sich aber auch an anderen Stellen, wie zum Beispiel an den inneren Rändern, wo sie so weit hineinreichen, daß sie kaum zu lesen sind. Vermutlich wurden diese Notizen angebracht, ehe die Exemplare so gebunden wurden. Wann dies geschah, bleibt noch zu prüfen.
Auf beiden Beispielphotos sind Nachträge zum gedruckten Text zu erkennen, beispielsweise auf dem Bild aus Jacob Grimms Exemplar zur veralteten Bedeutung ‚absichtlich‘ des Wortes ANGENOMMEN:

Das andere Exemplar, das Wilhelm Grimm zugeschrieben wird, zeigte bereits auf dem ersten uns zugegangenen Bild Überraschendes. Dieser Eindruck verstärkte sich durch die am 19. Januar eingetroffenen weiteren Probescans, weshalb ich diesen Text am 21. Januar ändere und die auf die Besonderheiten bezogenen Aussagen verstärke und korrigiere. In der nächsten Zeit werden wir hier im Grimmnetz und im Grimmforum weiter darauf eingehen.
Zunächst einmal überrascht es, daß die laut bisheriger Überlieferung von Wilhelm Grimm stammenden Notizen teilweise in deutscher Schrift geschrieben sind (nämlich diejenigen Anteile, die im Wörterbuch kursiv zu drucken wären). Wilhelm Grimm verwendete in dieser Zeit im allgemeinen nur die lateinische Schrift, aber die Verwendung der deutschen zur eindeutigen Markierung des kursiv zu setzenden Textes wäre immerhin denkbar; auch sind die auf dem ersten farbigen Probebild enthaltenen Textstücke dieses Schreibers ähnlich genug zu Wilhelm Grimms Handschrift, um die überlieferte Zuschreibung erst einmal beizubehalten.
Zweitens überrascht es in diesem Wilhelm Grimm zugeschriebenen Exemplar, bei den Nachträgen zu AUFSTECKEN eine weitere zusätzliche Handschrift, nämlich, wie Alan Kirkness gleich herausfand, die des Verlegers Salomon Hirzel, zu bemerken:

Am interessantesten an dieser Stelle ist aber, daß die hier angebrachten Notizen im DWB I, Sp. 746 f., sinngemäß verwertet wurden (also durch Jacob Grimm anders organisiert und formuliert). Die Bedeutung ‚aufstecken, einhalten, feierabend machen‘ hat Jacob Grimm noch als Punkt 5 eingeschoben; vorher schloß ’nichts aufstecken, nichts erreichen‘ als Punkt 5 den Artikel ab, in der Endfassung wurde letzteres Punkt 6. Für die zwei Seiten aus diesem Exemplar, die auf dem ersten aus Krakau angekommenen Bild zu sehen sind, ergibt sich daraus, daß sie aus einer Revision der Druckbögen vom Arbeitsanteil Jacob Grimms stammen. Der Drucktext ist also hier noch nicht der endgültige.
Man sieht auf dem ersten Bild aus diesem Band,
– daß die zwei Seiten aus dem Arbeitsprozeß am noch nicht abgeschlossenen ersten DWB-Band stammen;
– daß jemand den Text genau durchgearbeitet und Nachträge vorgenommen hat – sofern dies in der Tat Wilhelm Grimm gewesen wäre, dem das Exemplar zugeschrieben wird, würde sich eine sonst biographisch nicht belegte intensive Mitarbeit Wilhelm Grimms bereits am Band I des Wörterbuchs herausstellen (als Autor von Wortartikeln wurde er eigentlich nur beim Buchstaben D aktiv);
– daß mehrere Personen in diesem Exemplar Notizen angebracht haben, außer dem Hauptschreiber auf jeden Fall Jacob Grimm und Hirzel,
daß also – zusammenfassend gesagt – das Wilhelm Grimm zugeordnete Krakauer Exemplar sowohl mit dem darin enthaltenen Drucktext als auch bei den handschriftlichen Anmerkungen Befunde bietet, die nach den vorab verfügbaren Informationen (aus alten Katalogen der Staatsbibliothek und aus Akten) nicht so zu erwarten waren.

Die Arbeitsabläufe, denen die in den Krakauer Exemplaren überlieferten Notizen zuzuordnen sind, werden sich erst nach genauer Sichtung aller in Betracht kommenden Dokumente endgültig darstellen lassen. Daß dies aber nun überhaupt möglich wird, ist dem herrlichen Krakauer Fund zu danken; und daß wir hier schon darüber berichten können, dafür gebührt unser großer Dank der Jagiellonen-Bibliothek, die zur Vorab-Übersendung der zwei Probebilder bereit war.

Berthold Friemel, 17. Januar 2006
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Weitere Digitalisierung / Mitteilung Jagiellonen-Bibliothek
Aus Krakau traf mittlerweile eine Partie digitalisierter Seiten ein. Es handelt sich um den Alphabetabschnitt A bis ALLVEREIN, was der ersten, zur Leipziger Frühjahrsmesse 1852 erschienenen DWB-Lieferung entspricht, jeweils aus dem Exemplar Wilhelm und Jacob Grimms. Resultate aus diesen weiteren Ablichtungen teilen wir in nächster Zeit hier mit. Die Jagiellonen-Bibliothek übermittelte ferner folgenden Zusatz zur am 16. / 17. Januar hier im Grimmforum veröffentlichten Darstellung:

der Bericht von Ihnen und Prof. Kirkness im Grimmforum … spiegelt den Verlauf des Sensationsfundes in der Jagiellonen-Bibliothek richtig wider. Wir sind damit vollkommen zufrieden. …
Die Darstellung auf der Grimmforum-Seite könnte vielleicht um die Information ergänzt werden, dass sich alle neun Bände des Wörterbuchs in einem einwandfreien Zustand befinden. Alle Bände sind gebunden, von verschiedenem Umfang – die beiden Bände Wilhelm Grimm Handexemplars sind die dicksten, am dünnsten ist der letzte Band Jacob Grimm Handexemplars, der nur einen Teil des Buchstabens F beinhaltet. Das ganze Wörterbuch wurde desinfiziert, was ein Standardvorgehen für alle für die Magazine der Sondersammlungen bestimmten Objekte ist. Von bestimmter Bedeutung ist auch die Tatsache, dass die Jagiellonen-Bibliothek als erste über den Fund berichtet hat. Im November 2005 wurde die Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz darüber in Kenntnis gesetzt, und im Dezember 2005 – die Brüder-Grimm Gesellschaft in Kassel sowie auch das Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften der Universität Trier.
Es sei hier auch erwähnt, dass Ihrem Bericht eine prompte Reaktion polnischer Presse folgte; schon am 17. Januar 2006 ist eine Notiz in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ erschienen und weitere Zeitungsredaktionen und Fernsehsender haben die Bibliothek besucht.


Berthold Friemel, 20. Januar 2006
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Übersicht über die neun Bände der Handexemplare
Aus einigen Presseberichten über das Auffinden der Grimmschen Handexemplare in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau geht nicht immer unmißverständlich hervor, um welche neun Bände es sich handelt. Deshalb füge ich hier eine Übersicht über die Bände ein, die uns freundlicherweise von der Bibliothek übermittelt wurde:

Libr. impr. c. not. ms. Fol. 33-41

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Korrekturblätter, mit zahlreichen eigenhändigen Korrekturen von Jacob Grimm. und anderer Hand

Wilhelm Grimms Handexemplar:
Bd. A-C
(1. Bl. nicht gez., Sp. 33-36, 769-770, 769-770, 1-10, 41, 44-48, 57-64, 49-92, 94-95, 97-1552, 1557-1560, 1553-1556, 1561-1824, 1-612, 609-612, 613-640 + 1 Bl. ms. vor Sp. 7692)
(Libr. impr. c. not. ms. Fol. 33)

Bd. D-E
(Sp. 641-780, 777-780, 781-784, 781-784, 777-968, 961-964, 961-968, 965-1000, 1101-1124, 1025-1712, 1-96, 89-1096, 1053-1060, 1105-1208 + 3 Bl. ms.: am Anfang, nach Sp. 964 und 1496)
(Libr. impr. c. not. ms. Fol. 34)

Jakob Grimms Handexemplar:
Bd. I, Leipzig 1854: A-Biermolke
Teilbd. 1., Leipzig 1854: A-Auslüften
(Sp. I-XCII, 1097-1100, 1-912 + 1 Abb. + 9 Bl. ms.: am Anfang, nach Sp. LXXXIV, LXXXVIII, 4, 212, 376, 604, 724)
(Libr. impr. c. not. ms. Fol. 35)
Teilbd. 2., Leipzig 1854: Auslüftigen-Biermolke
(Sp. 913-1824)
(Libr. impr. c. not. ms. Fol. 36)

Bd. II, Leipzig 1860: Biermörder-D
Teilbd. 1., Leipzig 1860: Biermörder-Decher
(Sp. I-XVIII, 1-880 + 3 Bl. ms.: nach Sp. 332, 696, 836)
(Libr. impr. c. not. ms. Fol. 37)
Teilbd. 2., Leipzig 1860: Dechgeld-Dwatsch
(Sp. 881-1776)
(Libr. impr. c. not. ms. Fol. 38)

Bd. III, Leipzig 1862: E-Forsche
Teilbd. 1., Leipzig 1862: E-Errennen
(Sp. I-VIII, 1-36, 1 Bl. nicht gez., 37-944 + 1 Bl. ms. nach Sp. 116 und 1 der Sp. 234, 266 u. 345 geklebt)
(Libr. impr. c. not. ms. Fol. 39)
Teilbd. 2., Leipzig 1862: Errettbar-Forsche
(Sp. 945-1904 + 2 Bl. ms.: nach Sp. 1116 und 1640)
(Libr. impr. c. not. ms. Fol. 40)

Bd. IV,I,1, Leipzig 1878: Forschel-Gefolgsmann
Teilbd. 1., Leipzig 1863: Forschel-Fromm
(Sp. 1-240 + 2. Bl. nicht gez. am Ende)
(Libr. impr. c. not. ms. Fol. 41)

Alan Kirkness, 22. Januar 2006

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